Was bedeutet Barmherzigkeit?

Bild: Carola Senz. Der Jahreslosungs-Kunstkalender 2021 ist erhältlich hier: https://www.adeo-verlag.de

Auch in diesem Jahr wurde von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ein Bibelvers ermittelt, der uns das ganze Jahr über begleiten soll. Er lautet in der Lutherbibel: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36).

Im folgenden Beitrag lesen wir dazu einen Impuls von Pastor Simon Gottschick.

Barmherzigkeit = Mitgefühl?

 Das Wort Barmherzigkeit gebrauchen wir in unserer Alltagssprache heute selten. Und wenn, dann verstehen wir darunter eher Mitgefühl.

  • Da ist zum Beispiel ein Mensch in einer misslichen Lage und wir kümmern uns um ihn.
  • Manche opfern viel von ihrer Freizeit, um Menschenleben zu retten und zu versorgen. Wir alle profitieren immer wieder von Diensten der Barmherzigkeit durch ehrenamtliche Helfer.
  • Oder ein Missstand wird aufgedeckt und Menschen setzen sich mit allen Kräften für seine Beseitigung ein.

Beispiele sind für mich hier „Fridays for Future“, wo es um den Klimaschutz geht, oder auch die „MeToo“-Bewegung und „Black Lives Matter“ (schwarzes Leben zählt). Hier engagieren sich auf einmal viele Tausende Menschen auf der ganzen Welt, weil sie über Entwicklungen besorgt sind. Sie äußern ihr Mitgefühl, indem sie sich für etwas gemeinsam stark machen und Missstände beim Namen nennen. Das finde ich beeindruckend und es zeigt, dass sich Dinge durch Zusammenstehen verändern können.

Was ist Barmherzigkeit aus Gottes Sicht?

Die Bibel spricht davon, dass Gott von seinem Wesen her barmherzig ist („Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte!“ Psalm 145,8 – Luther Bibel).

Gottes Barmherzigkeit ist noch viel mehr als das tiefe Mitgefühl, das wir Menschen für jemanden oder für ein Anliegen haben können.

Gottes Barmherzigkeit bewegt sein Innerstes. Er lässt uns nicht in unserem Elend. Nein, er, der Schöpfer, zeigt dieser Welt und uns Menschen nicht die kalte Schulter. Wir liegen ihm zutiefst am Herzen.

Im Alten Testament zeigt sich das sehr eindrücklich an der Beziehung, die Gott zum Volk Israel hatte. Er hatte sich dieses Volk ausgewählt und ihm versprochen, immer zu ihm zu stehen. Ein Bund wurde damals am Berg Sinai geschlossen und in Form der Zehn Gebote bekräftigt. Das Volk Israel sollte im Gegenzug Gott gegenüber treu sein.

Doch es verhielt sich so wie wir Menschen. Wir alle wandten uns von ihm ab und enttäuschten ihn tief, obwohl er es so gut mit uns meint. Keiner hielt sich an die Zehn Gebote. Von uns aus taten wir nichts, um die Beziehung mit Gott aufrecht zu halten. Jeder von uns hätte sich an seiner Stelle für immer abgewandt und einen Schlusspunkt gesetzt. Aber Gott ist anders. Er ist immer wieder barmherzig. Das zeigt die Bibel.

Gottes Barmherzigkeit wird Mensch

Gottes Barmherzigkeit ist so groß, dass er selbst einen Ausweg schuf, damit wir – DU und ICH – in enger Gemeinschaft mit ihm, unserem Schöpfer, leben können.

An Jesus selbst sehen wir, wie barmherzig Gott ist:

  • ER kam zu uns Menschen und wurde selbst Mensch.
  • Als Mensch konnte Jesus wirkliches Mitgefühl zeigen – von Mensch zu Mensch. Und das tat er, indem er sich gerade denen zuwandte, die Gottes Barmherzigkeit besonders nötig hatten und in der Gesellschaft nur am Rande vorkamen: die Kranken, die Armen, die Bettler, die Witwen, die Steuereintreiber, die Verlassenen.
  • Er war barmherzig, indem er sie heilte, Gemeinschaft mit ihnen hatte, sich Zeit für sie nahm, mit ihnen aß und sich ihrer Not annahm.
  • Doch als Jesus letztlich auf dem Hügel Golgatha außerhalb der Stadtmauern von Jerusalem am Kreuz für die Schuld der Menschen starb, leuchtete gleichzeitig Gottes Barmherzigkeit heller auf wie nie zuvor und danach!
  • Denn Gott selbst gab sich in Jesus in den Tod, um uns aus der Unbarmherzigkeit des Lebens ohne ihn zu erlösen.
  • Jesu Tod überwand alles, was uns jemals von Gott trennte, und eröffnete uns den Weg in die Gemeinschaft mit Gott unserem Schöpfer und Vater.

Diese Barmherzigkeit ist auch heute noch erfahrbar. Sie ist kostenlos, auch wenn sie ihren Preis hatte. Jeder darf sie in Anspruch nehmen.

Der ehemalige Sklavenhändler John Henry Newton, dessen wunderbares Lied „Amazing Grace“ wir kennen, war eines Tages überwältigt von dem großen Unrecht, das er getan hatte. Verzweifelt bat er Gott um Vergebung und erlebte dann seine Barmherzigkeit. Von ihm stammt der Ausspruch:

„In mir selbst bin ich sündiger, als ich jemals hätte glauben können. In Christus bin ich geliebter, als ich jemals hätte hoffen können.“

Und der erste Vers von „Amazing Grace“ lautet im Deutschen:

O Gnade Gottes,

wunderbar hast du errettet mich.

Ich war verloren ganz und gar,

war blind, jetzt sehe ich.

Anton Schulte | John Newton © 1973 SCM Hänssler, Holzgerlingen (verwaltet von SCM Hänssler)

Wer wie John Newton im eigenen Leben konkret erfahren hat, wie barmherzig Gott ist, wird verändert. Er bleibt nicht mehr derselbe, sondern lernt immer mehr, die Welt aus Gottes Perspektive der Barmherzigkeit zu sehen und nach seinen Werten zu handeln. Denn unsere Welt braucht einen Lebensstil der Barmherzigkeit, der aus der Kraft Gottes lebt.